Morgen ist es ein Jahr her, dass zwei Frauen in Göttingen getötet wurden. Wir waren und sind bestürzt über die grausamen Taten und wir bekunden den Angehörigen unser tiefes Beileid. Aber wir sind auch wütend. Wütend über die Gewalt gegen Frauen, die uns Tag für Tag entgegenschlägt und die diesen beiden Frauen das Leben gekostet hat. Denn diese Morde sind keine Einzelfälle und deshalb müssen wir sie als das benennen, was sie sind: Femizide.
Der Begriff Femizid bezeichnet die Tötung einer Frau, weil sie eine Frau ist. Femizide sind die Zuspitzung der strukturellen Gewalt, von der Frauen und Mädchen im Patriarchat tagtäglich auf der ganzen Welt bedroht sind. Diese Gewalt beginnt schon viel früher und zeigt sich z.B. in übergriffigen Kommentaren, Slutshaming oder ungefragten Berührungen im öffentlichen Raum. Denn auch diese Gewalt passiert und wird in unserer Gesellschaft normalisiert. Besonders gefährdet sind Frauen, die von Mehrfachdiskrimierung betroffen sind, wie z.B. queere Frauen, Schwarze Frauen, indigene Frauen und women of Color. Als Kampfbegriff wurde „Femizid“ durch die Bewegung „NiUnaMenos“ vor allem in Lateinamerika geprägt, die Initiative KeineMehr in Deutschland ist davon inspiriert entstanden.
Femizide stehen im Zusammenhang mit patriarchalen Vorstellungen von Männlichkeit. Männliche Dominanz und Besitzansprüche können für eine Frau lebensbedrohlich sein. Frauen, die unabhängig sind oder einen Mann zurückweisen, sowie Menschen, die nicht einer binären und heteronormativen, Weltvorstellung entsprechen, gefährden das Bild der männlichen Überlegenheit. Oftmals versuchen Männer dieses Bild mit psychischer und physischer Gewalt wiederherzustellen. Diese Männer, die sich bedroht, herausgefordert oder gekränkt fühlen, scheinen sich im Recht zu sehen, jede notwendige Gewalt anzuwenden, um die Herrschaft über die zu behalten, die sie für ihren Besitz halten. Auch die beiden Femizide in Göttingen passen in dieses Bild. Der Täter tötete seine Ex-Freundin auf offener Straße und verletzte dann eine herbeieilende Kollegin so stark, dass sie später im Krankenhaus ebenfalls verstarb. Der Anwalt der Familie der Ex-Freundin führt aus, schon die Beziehung sei „von Eifersucht und Besitzdenken geprägt“ gewesen. Bei der Tat machte der Täter deutlich, dass er sie umbringe, weil sie sich von ihm getrennt habe.
Tötungen durch den Partner oder Expartner sind weltweit die am häufigsten auftretende Form von Femiziden. Laut dem Bundeskriminalamt wurden 2019 135 Frauen von ihrem Partner oder Expartner getötet. Für 2020 gab es laut der Zählung von Kristina Wolff bereits jetzt 140 Femizide. In der medialen Berichterstattung werden diese Morde aber häufig als tragische Einzelfälle mit Begriffen wie „Eifersuchtsdrama“ und „Familientragödie“ verharmlost. Damit wird das Problem ins Private verschoben und mit der psychischen Verfassung des Täters erklärt. Als Resultat kommen Femizide nicht als Problem im öffentlichen Bewusstsein vor. Es bleibt unsichtbar, dass Gewalt gegen Frauen und Frauenfeindlichkeit tief in unserer Gesellschaft verankert sind. Das spiegelt sich in der deutschen Urteilssprechung wider: Ein wegweisendes Urteil des Bundesgerichtshofs von 2008 besagt, dass die Tötung einer Frau durch einen Mann nicht durch „niedere Beweggründe“ motiviert ist und damit nicht den Tatbestand Mord erfüllt, wenn der Tat eine Trennung von Seiten des späteren Opfers voraus geht und der Mann [Zitat] „durch die Tat sich dessen beraubt, was er eigentlich nicht verlieren will.“
In den Medien gibt es immer wieder dann ein großes Echo, wenn Femizide und Gewalt gegen Frauen nicht von weißen Männern begangen wurden und deshalb rassistisch instrumentalisiert werden können, wie z.B. bei sogenannten „Ehrenmorden“. Dort kann das Problem den vermeintlich „Fremden“ oder der „anderen Kultur“ zugeschoben werden, was dann wieder der rassistischen Abwertung dient.
Die Verleugnung partriarchaler Gewalt zeigt sich auch darin, dass das Bundeskriminalamt keine Statistik zu Femiziden führt. Lediglich Tötungen durch den Partner oder Expartner und dadurch nur ein Teil der Femizide werden erfasst. Die Dokumentation von Femiziden übernehmen stattdessen Initiativen und engagierte Einzelpersonen wie One Billion Rising Deutschland, das Wiki „Keine mehr“, European Observatory of Femicide – Deuschland, Feminizidmap, Frauenhäuser und Kristina Wolff. Lasst uns dafür kämpfen, dass Femizide auch hierzulande konsequent benannt und bekämpft werden. Kraft ziehen wir aus den Bewegungen in Lateinamerika. Zum Beispiel in Mexiko oder Argentinien gehen Feminist:innen zu Zehntausenden auf die Straße. Sie haben bereits erreicht, dass Femizid in die Gesetzbücher aufgenommen wurde. Lasst uns auch hier in Göttingen gegen Femizide vorgehen! Für eine Gesellschaft ohne Männergewalt und Patriarchat! Für eine feministische Revolution! Frauen, Leben, Freiheit!
Organisieren wir uns! Weil wir glauben, dass wir die Zustände ändern können. Dass wir die einengenden, binären Rollenvorstellungen von Frauen und Männern in unserer Gesellschaft aufbrechen und wir dem Patriarchat das Futter nehmen können. Stoppen wir die Normalisierung von Gewalt gegen Frauen und gegen alle Menschen, die nicht der heteronormativen Ordnung entsprechen. Dann kämpfen wir dafür, dass es keine Femizide mehr gibt, dass es weniger Männer gibt, die denken, sie müssten sich als Mann gegenüber Frauen mit Gewalt beweisen. Wenn wir uns organisieren, dann können wir das Aufwachsen von Kindern prägen, dann können wir uns empowern übergriffigem Verhalten und anderer struktureller Gewalt entgegen zustehen, weil wir als Gesellschaft ein Problem haben.
Bringen wir unseren Töchtern nicht bei, dass sie Angst haben müssen sondern bilden wir unsere Söhne!
Wenn wir uns als Frauen verbünden, dann rütteln wir an den Grundfesten des Patriarchats, das Frauen vereinzelt und in Konkurrenz zueinander setzt. Wir können erkennen, dass unsere vermeintlich persönlichen Probleme politisch sind, dass wir mit ihnen nicht alleine sind. Wir können uns gegenseitig anerkennen, wertschätzen und voneinander lernen. Wenn wir das tun, brechen wir mit der Abwertung von Frauen, die auch in unseren eigenen Köpfen steckt. Wir entwickeln gemeinsam Stärke und Handlungsfähigkeit, um diese Gesellschaft zu verändern. Und wir sind nicht alleine, wir sind viele: Alle, die heute hier sind, alle, die heute nicht hier sein können, alle, die anderswo auf der Straße sind, und alle, die vor uns feministisch gekämpft haben. Lasst uns nicht vergessen, dass wir viele sind!
Gemeinsam können wir fordern, dass Femizide als solche benannt und bekämpft werden. Lasst uns Kraft und Inspiration aus der Stärke der feministischen Bewegungen in Lateinamerika ziehen! Lasst uns auch hier dafür kämpfen so große Wellen in der Gesellschaft zu schlagen. Wir können gemeinsam verstehen, dass die Strukturen, in denen wir leben das Problem sind und wir diese überwinden können. Lasst uns eigene Strukturen schaffen, mit denen wir uns selbst verteidigen und die die patriarchalen Zustände überwinden.
Nieder mit dem Patriarchat! Frauen! Leben! Freiheit!
Quellen:
Linkerhand, Koschka (2020a): Mitten unter uns. Überlegungen zum transnationalen Kampf gegen Frauenmorde. Erster Teil. In: konkret 8/2020, S. 41-43.
Linkerhand, Koschka (2020b): Mitten unter uns. Überlegungen zum transnationalen Kampf gegen Frauenmorde. Zweiter Teil. In: konkret 9/2020, S. 21-23.
Wischnewski, A. (2018). Femi(ni)zide in Deutschland – ein Perspektivwechsel. Femina Politica-Zeitschrift für feministische Politikwissenschaft, 27(2).